Bei einer Linde

Seh ich dich wieder, du geliebter Baum,
In dessen junge Triebe
Ich einst in jenes Frühlings schönstem Traum
Den Namen schnitt von meiner ersten Liebe?

Wie anders ist seitdem der Äste Bug,
Verwachsen und verschwunden
Im härtren Stamm der vielgeliebte Zug,
Wie ihre Liebe und die schönen Stunden!

Auch ich seitdem wuchs stille fort, wie du,
Und nichts an mir wollt weilen,
Doch meine Wunde wuchs – und wuchs nicht zu,
Und wird wohl niemals mehr hienieden heilen.

 

Das Gedicht „Bei einer Linde“ von Joseph Eichendorff stammt aus dem Jahre 1826 und ist der Epoche der Romantik zuzuschreiben. Bekannte Motive dieser Zeit, wie die Hinwendung zur Natur und zum Traum, sind in dem Werk verwirklicht.
Es umfasst die Sehnsucht nach einer längst vergangenen Liebesgeschichte, der das lyrische Ich nicht zu entkommen vermag.

„Bei einer Linde“ besteht aus drei Strophen mit jeweils vier Versen, die einen durchgehenden Kreuzreim aufweisen und in Jamben verfasst sind.
Das lyrische Ich wirkt zwar nicht zutiefst betrübt, aber der Gedanke an die erste verflossene Liebe schmerzt es trotzdem noch und scheint es auch nicht loszulassen. Außerdem wird eine Veränderung beschrieben, die sich wohl in den letzten Jahren abgespielt haben muss.

Der erste Vers des Gedichts beginnt mit einer Wortkürzung („Seh“), die den Lesefluss vermutlich verbessern soll. Außerdem kann die ganze erste Strophe als rhetorische Frage betrachtet werden. Sie handelt vom lyrischen Ich, das vor langer Zeit den Namen der ersten Liebe, als eine Art Liebesbeweis, in besagte Linde schnitt. Dadurch, dass der Name zuvor in deren junge Triebe geritzt wurde, es sich aber mittlerweile schon um einen größeren Baum handelt, ist davon auszugehen, dass schon viel Zeit seit der Beziehung vergangen ist.
Im dritten Vers kann man eine Metapher erkennen („in jenes Frühlings schönstem Traum“), die auf Frühlingsgefühle anspielt und auch auf die träumerische Lebensweise, die man durch seine erste große Liebe hegt und durch die einem die Welt oft wie in einem Traum erscheint.

Die zweite Strophe handelt von Veränderung. Eichendorff schreibt zwar zunächst nur von der Veränderung des Baumes an sich, im weiteren Verlauf des Gedichts wird er jedoch mit dem Liebenden verglichen, weshalb man die Linde als eine Art Symbol für die Veränderung jenes Menschen interpretieren kann.
Außerdem befindet sich am Ende der zweiten Strophe ein Vergleich zwischen dem verwachsenen Schriftzug im Baum und der ebenso verschwundenen Liebe der einst Angebeteten; verwoben mit einer Ellipse („im härtren Stamm der vielgeliebte Zug“) im siebten Vers des Gedichts.

Die letzte Strophe zeigt, dass – obwohl das lyrische Ich wie der Baum „wuchs“ und sich veränderte – die Wunden des Herzschmerzes niemals heilen. Eichendorff arbeitet im dritten Vers der letzten Strophe mit einer Alliteration und baut das Wörtchen „wuchs“ geschickt mit zwei verschiedenen Bedeutungen ein: „Meine Wunde wuchs – und wuchs nicht zu“.

Oft wird gesagt, dass die erste Liebe am schmerzvollsten sei, da bei der ersten Beziehung nicht nur die ersten Beziehungsprobleme aufkämen, sondern auch eigene Schwachpunkte oder Traumata der Kindheit. Auch in diesem Fall scheint das lyrische Ich, wie im letzten Vers beschrieben, die schmerzhaften Wunden „wohl niemals mehr hienieden heilen“ können. Die Linde wiederum hat sich schneller erholt und die Erinnerung ist längst, wie Eichendorff in Vers sechs beschreibt, „verwachsen und verschwunden“.

Mich persönlich spricht das Gedicht durchaus an, weil ich mit meinen 18 Jahren zwar wahrscheinlich noch nicht so viel von wahrer Liebe verstehe, aber natürlichen trotzdem auch schon meine ersten Erfahrungen mit Liebeskummer gemacht habe. Da sich also fast 200 Jahre nach Entstehung des Gedichts noch immer jemand damit identifizieren kann, würde ich „Bei einer Linde“ als ein zeitloses Gedicht beschreiben. Durch die Schreibweise und die Umgebung, in der das Gedicht spielt, regt Eichendorff die eigene Vorstellung an und man kann sich gut in die Gefühlslage hineinversetzen; nahezu so, als würde man sich eben selbst gerade „Bei einer Linde“ befinden.

 

 

Sofia Hinterberger // 8M // Jänner 2022
Non-Fiction // Gedichtinterpretation