„Hallo Lara! Endlich bist du da. Ich freu mich so!“, rief mir Oma Lotti zu, als ich an dem ersten Tag der Sommerferien an ihrer Haustür klingelte. Wie jedes Mal fuhr ich mit dem frühesten Zug nach Rosenstein. Nach ca. drei Stunden kam ich endlich an, da das Dorf sehr abgelegen war. Trotzdem war es dort sehr schön und ich freute mich jedes Mal auf die Woche bei Oma Lotti am Bauernhof. Froh knuddelte ich Oma. Schnell stellte ich meine Sachen ab und sah mich um, ob sich nicht etwas verändert hatte. Doch alles war ganz normal und gemütlich – wie eh und je. Während Omi ihre weltbesten Palaschinken zubereitete, machte ich mich auf den Weg in den ersten Stock zum Gästezimmer, in dem ich immer schlief, wenn ich bei Lotti war.

Aus Langeweile schaute ich in alle Laden und Kästen. Doch was war das? In einer Schublade des Nachtkästchens lag ein großer silberner Schlüssel. Sogleich wusste ich: „Das ist der Schlüssel vom Dachboden!“ Er musste sicher schon über zehn Jahre dort vor sich hin gemodert haben, denn schon als Oma den Bauernhof kaufte, war kein Schlüssel für den Dachboden dabei. Das bekümmerte Lotti sehr, denn sie liebte nichts mehr, als in alten Sachen herumzustöbern. „Aber jetzt hab‘ ich ihn gefunden“, flüsterte ich stolz. Schnell schlich ich mich zur Dachbodentüre hinauf. Während ich den Schlüssel mit zittrigen Fingern ins Schloss steckte,hielt ich den Atem an. „Yeah – passt!“, rief ich triumphierend. Gespannd schaute ich mich um. Überall lagen uralte Möbel und Dinge herum: in einer Ecke lag ein Gehstock, woanders ein Spinnrad.

Beim Umschauen blieben meine Augen bei einem ovalen Spiegel hängen. Es kam mir so vor, als wäre ich von ihm magisch angezogen. Langsam näherte ich mich ihm und berührte ihn vorsichtig. Ich spürte die atemberaubende Kraft des Spiegels in mir. Sofort wusste ich, dass das ein ganz besonderer war. Plötzlich zog mich das Ding wie ein Staubsauger ein. Auf einer bunten Blumenwiese fand ich mich wieder. „Autsch! Pass doch auf, wo du hinsteigst!“, unterbrach eine helle Stimme die Stille.

„Aber wo bist du denn? Ich sehe dich nicht!“, fragte ich verwundert. Das „Etwas“ antwortete mir: „Na, unter deinem Daumen. Zerdrück mich nicht. Wir Glorinas werden sowieso schon viel weniger.“ Endlich sah ich die hübsche und zarte violette Blume. Über ihre Worte wunderte ich mich aber: „Wieso werdet ihr immer weniger?“. Gloria, so hieß die Blume, erzählte, dass immer mehr Blüten und Bäume ausstarben, weil sie ohne ihren Zauberstaub nicht überleben konnten. Und wie es das Schicksal so wollte, gab es nicht mehr viel Zauberstaub. Erst wenn die böse und wütende Königin dieser wundervollen Gegend lachte und fröhlich war, würde sich wieder mehr Zauberstaub bilden und damit Blumen und Bäume versorgen. „Und deshalb musst du etwas tun!“, beendete Gloria ihre Rede. Ich schaute Gloria mit großen Augen an: „Ich, wieso ich?“. „Weil wir Blumen und Bäume im Boden verankert sind und nicht gehen können. Aber du Menschenkind kannst gehen. Bitte mache dich auf den Weg zur Königin“, bat mich Gloria. Zögernd stimmte ich zu. Das Blümchen riet mir gleich loszugehen, da die Sonne bald unterging und weil das Schloss der Königin ein gutes Stück von hier entfernt war. Gloria gab mir noch eine Flasche mit Tautropfen zum Trinken mit.

Der Weg war lang und beschwerlich und dauerte länger als einen Tag. Allmählich machte ich mir Sorgen wegen Oma Lotti. Sie suchte mich bestimmt schon. Ich wanderte auf Moos, kletterte auf Stein und wünschte mir nichts Sehnlicheres als den Anblick vom Schloss der Königin. Endlich, am Nachmittag des 2. Tages sah ich die königliche Behausung vor mir. Ich atmete kurz durch und stürzte mich dann in die Höhle des Löwens. Laut klopfte ich an der eisernen Türe, die mir den Weg zur Königin versperrte. Ich hatte das Gefühl, mein Herz pumpte genauso laut, als würde jemand gegen die Haustüre klopfen.

Plötzlich hörte ich schnelle Schritte und eine griesgrämige Person öffnete. Pechschwarz war sie angezogen und ihre Seele war es wohl auch. Mutig fragte ich: „Entschuldigung, dass ich störe, sind Sie die Königin dieses Reiches?“ Die Königin nickte. Nun fuhr ich fort: „Ich habe gehört, Sie können nicht lachen und fröhlich sein. Ich würde Ihnen helfen, das wieder zu können. Wissen Sie eigentlich, dass so viel von Ihrer Fröhlichkeit abhängt?“ „Was erlaubst du dir, so mit mir zu sprechen?“, schimpfte sie. Ich dachte kurz nach und sagte dann: „Denken Sie einmal an Blumen. Besser wäre noch eine Blumenwiese. Bienen summen um die Blumen herum und Schmetterlinge tanzen im Sonnenschein. Über alldem erstreckt sich ein Regenbogen.“

Zum ersten Mal in ihrem Leben lächelte die Königin. Doch das war nicht genug. Ich probierte es weiter: „Kennen Sie schon den Witz: Was sagt ein Pirat, wenn er trockenes Gras sieht?“ Die Königin machte ein fragendes Gesicht. Ich klärte sie auf: „A Heu!“ Darüber lachte die Frau so viel, dass sie fast Bauchweh bekam. „Danke, liebes Menschenkind. Endlich kann ich wieder lachen! Am liebsten hätte ich dich bei mir als Witzeerzählerin angestellt, aber ich glaube, du willst nach Hause. Du hast so viel für die Blumen, Bäume und vor allem für mich getan. Ich spüre schon, wie sich der Zauberstaub vermehrt. Kann ich irgendetwas für dich tun?“, fragte sie höflich. „Ja, gerne. Ich wüsste gerne, wie ich am schnellsten wieder zur Blumenwiese, wo die Glorinas wachsen, komme. Dort steht mein Zauberspiegel, mit dem ich hierher gekommen bin und mit dem ich wohl auch wieder in die Menschenwelt zurück kann“, sagte ich.  „Nichts leichter als das“, meinte die Königin. Sie schnipste einmal mit den Fingern und sofort kam ein riesiger Paradiesvogel herbeigeflogen. Ich verabschiedete mich von der Königin und schwang mich auf den Rücken des Vogels.

In Windeseile brachte er mich zu Gloria zurück. Ich bedankte mich bei ihm für den Flug. Da hörte ich auch schon Glorias liebe Stimme: „Lara, du hast es geschafft! Dankeschön dafür. Das werden wir nie vergessen, was du für uns getan hast!“ „Gern geschehen“, meinte ich und verabschiedete mich von ihr. Abermals ging ich durch den Spiegel. Nun hatte ich keine Angst mehr. Am Boden des Dachbodens meiner Oma fand ich mich wieder. Erleichtert atmete ich auf. Endlich war ich wieder zurück. So schön es in der anderen Welt doch war, ich vermisste meine Oma schon sehr. Gerade als ich überlegte, wie ich es Lotti sagen sollte, hörte ich ihre Stimme: „Lara, die Palatschinken sind fertig! Kommst du bitte runter?“

Ich staunte. Ich war nur wenige Sekunden, nachdem ich in den Spiegel gegangen war, zurückgekommen. Und diiese Palatschinken schmeckten nach dieser abenteuerlichen Reise noch besser als sonst.

 

Louisa Kühn-Laimer

2M // 2024 // Phantasiegeschichte